«Altersstrategisch ein kluger Schachzug»
Bassersdorfs Gemeinderätin Selina Stampfli spricht im Interview mit dem Dorfblitz über die Versorgungssicherheit.
Selina Stampfli, das Thema Versorgungsplanung gewinnt immer mehr an Gewicht. Warum?
Wir alle sind vermutlich irgendwann auf die Pflege im Alter angewiesen. Deshalb bewegt dieses Thema die Menschen. Die Gemeinden sind in der Pflicht, diese Versorgung sicherzustellen. Wie wir dies tun, ist uns überlassen. Nun haben sich viele Parameter in der Langzeitversorgung in den letzten zehn Jahren stark verändert. Beispielsweise in der Altersentwicklung, der Pflegefinanzierung oder den Anbietern der Pflegeeinrichtungen. Wir wissen längst: Es gibt immer mehr ältere Menschen. Diese Entwicklung zwingt uns, sich mit der Betreuung und Pflege im Alter auseinanderzusetzen. Alle haben verstanden, dass es Auswirkungen hat, wenn wir einerseits älter werden und andererseits die Personengruppe der Älteren einen grösseren Anteil in der Bevölkerung einnimmt.
«Alle haben verstanden, dass Älterwerden Auswirkungen hat»
Wie sieht diese Auseinandersetzung auf Ebene der Gemeinde aus?
Wir sind in Bassersdorf seit vielen Jahren vorausschauend und weitsichtig in den einzelnen Feldern der Versorgung unterwegs. Die Versorgungsplanung ist seit 2018 in der Altersstrategie verankert. Zudem überarbeiten wir zurzeit die Versorgungsplanung von 2012. Grundlage dafür sind die Standortbestimmung und die daraus entstandenen Handlungsempfehlungen des Projektbegleiters ValeCura AG. Wir schaffen damit die strategischen Voraussetzungen im Team mit Gemeindepräsident Christian Pfaller, der Abteilungsleiterin Gesellschaft Ursula Furrer, der Altersbeauftragten Esther Diethelm und mir als Ressortverantwortlichen.
Wie stark sind Dienstleister und Vereine involviert?
Bei der Bedarfserhebung für die Standortbestimmung fanden Gespräche mit Dienstleistern wie dem KZU Kompetenzzentrum Pflege und Gesundheit, der Spitex Bassersdorf Nürensdorf Brütten, Vereinen und vielen weiteren Personen statt. Wir haben Fakten und Zahlen erhoben. Nun ist es unsere Aufgabe, daraus strategische Ziele zu definieren und ein eigentliches Fundament zu schaffen. Die Anbietenden einer spezifischen Dienstleistung werden Schritt für Schritt beigezogen: von den Freiwilligen bis zu den Pflegeeinrichtungen. Es ist unsere politische Verantwortung, die Ressourcen und Rahmenbedingungen zu schaffen, um unserem Auftrag der Langzeitversorgung nachzukommen.
Es tönt nach viel Kopfarbeit …
Strategien zu erarbeiten ist immer viel Arbeit – das ist hier in der Tat auch so. Diese Arbeit ist jedoch essenziell, um geordnet in die Zukunft zu schreiten. Mit den grossen Veränderungen in der Gesundheitslandschaft kommen immer neue Aufgaben auf die Gemeinden zu. Beispielsweise mit der Änderung der Zusatzleistungsverordnung per 1. Januar 2025. Ich sehe darin eine klare Massnahme für den Leitsatz ‹ambulant vor stationär› – altersstrategisch ein sehr sinnvoller und kluger Schachzug, für die Gemeinden jedoch Mehrarbeit, die es zu stemmen gilt.
Der Kanton hat den Gemeinden den Auftrag gegeben, Versorgungsregionen zu bilden. Bassersdorf gehört zu Bülach Süd-West.
Zur Versorgungsregion Bülach Süd-West gehören neben Bassersdorf auch Nürensdorf, Kloten und Opfikon. Hier geht es um die kantonsweite gemeinsame Pflegebettenplanung wie dies auch bereits bei der Spitalplanung der Fall ist. Die Planung will Unter- und Überkapazitäten vermeiden. Erste Gespräche in diesem Prozess haben gezeigt, dass wir gut zusammenarbeiten und auch gut versorgt sind in Bassersdorf. Es sind zurzeit genügend Pflegebetten vorhanden. Wir gehen aktuell von einem Bedarf an zusätzlichen Pflegeheimbetten ab 2030 in der Versorgungsregion aus. Das Alters- und Pflegezentrum Breiti ist zu rund 90 Prozent ausgelastet. Das KZU steuert ebenfalls seinen Teil dazu bei und mit der im Bau befindlichen Oase-Residenz sind weitere Pflegebetten in Planung. Der Fokus ist noch stark auf den Pflegebetten. Ich denke, das wird sich im Laufe der Zeit auf intermediäre Angebote, also Mittelwege zwischen ambulant und stationär ausweiten. Grundsätzlich begrüssen wir diesen Ansporn, in Versorgungsregionen zu denken: solche Themen müssen wir gemeinsam angehen und regional übergreifend planen. Nur schon, weil sie kosten- und planungsintensiv sind. Beim KZU sind bereits 20 Gemeinden involviert und diese regionale Zusammenarbeit funktioniert gut.
Die Strategie ist das Fundament für bewusstes Gestalten. Wie gehen Sie nun in die Tiefe?
Entlang der Versorgungssektoren sind wir jetzt Schritt für Schritt am Prüfen. Aus der Standortbestimmung haben wir einige Anstösse erhalten. Diese Handlungsimplikationen betreffen alle Sektoren der Versorgungskaskade: von den ambulanten Angeboten, welche auch die Zivilgesellschaft, Vereine, Dienstleister wie Therapeuten, Hausärzte, die Spitex sowie Kirchen einschliesst, über die intermediären Angebote bis zu den stationären Versorgern. Es ist eine immense Breite, die im Versorgungsthema mitgedacht werden muss.
Als Gemeinde können wir aus unserer Strategie Impulse definieren und übergeordnete Zielsetzungen festlegen, die in die einzelnen Themen einfliessen. Beispielsweise ist die Verselbständigung des Alters- und Pflegezentrums eine solche Massnahme: Wir sind überzeugt, dass das APZ mehr betriebliche Freiheiten und mehr Handlungsspielraum braucht, um einem 24-Stunden-Betrieb im Pflegebereich gewachsen zu sein. Das APZ will weiterhin eine gute, bezahlbare Pflege anbieten und eine attraktive Arbeitgeberin sein. Bereits früher haben wir weitere Massnahmen umgesetzt: So haben wir 2014 die Fachstelle für Altersfragen gebildet und seit 2018 eine Pflegekoordinatorin eingesetzt. Sie ist ein wichtiges Bindeglied in der Versorgungskette.
«Es ist eine enorme Breite, die mitgedacht werden muss»
Ebenso hat die Spitex zu einer ausserordentlichen GV geladen – gehört dies zur Strategie?
Die Spitex-Dienstleistungen werden im Zusammenhang mit dem Ansatz ‹ambulant vor stationär› immer wichtiger. Die Spitex ist ein Bindeglied beim Entlastungsbedarf. Sie muss und soll sich entwickeln, um in diesem kompetitiven Umfeld eine Rolle zu spielen. Drei Gemeinden sind bei der Spitex Bassersdorf Nürensdorf Brütten involviert und haben ein Interesse daran, dass sowohl die Pflegequalität, die Angebotsentwicklung und die Abrechnung von Leistungen der Spitex – ob nun gemeinnützig oder privat – unseren Vorgaben entsprechen. Die Gemeinde bezahlt beide. Mit Leistungsvereinbarungen haben wir ein Instrument, mit dem wir Einfluss nehmen können. Daher sind offene Gespräche zwischen den Dienstleistern wichtig, um Leerläufe zu eruieren und die Durchlässigkeit der Angebote sicherzustellen. Aktuell laufen Verhandlungen zwischen der Spitexführung und dem KZU, um gute Lösungen für die Bevölkerung von Bassersdorf sicherzustellen.
Was wären solche Felder, die man entwickeln kann?
Ein Beispiel wären die frühzeitigen Demenz-Erkrankungen – sie nehmen rasant zu und werden uns noch massiv beschäftigen. In diesem Bereich könnten wir uns spezialisieren.
Die ambulante Ausrichtung scheint zentral?
Keine Frage: so weit als möglich ambulant abdecken ist die Losung. Nicht, weil wir als Gemeinde es so wollen, sondern weil es ein tief verankerter Wunsch der Bevölkerung ist und sich in vielen Umfragen zeigt. Die Menschen wollen in vertrauter Umgebung leben. Es lohnt sich schlicht jeder Franken, den wir einsetzen, um dies zu unterstützen.
Deshalb plädieren wir wo immer möglich für das Denken in Varianten. Die Gemeinde hat in den letzten zehn Jahren viel Erfahrung gesammelt und mit dem Altersforum, der Nachbarschaftshilfe, dem Besuchsdienst ‹va bene›, dem gemeinnützigen Frauenverein, dem SRK, den Kirchen und vielen Freiwilligen ein tragfähiges Netz aufgebaut, in dem vieles funktioniert und Hemmschwellen bei den Betroffenen auch abgebaut wurden. Einige komplexe Fragestellungen haben wir dadurch bereits hinter uns gelassen. Die Frage, die uns leitet, ist eigentlich sehr einfach: Was macht es der Bevölkerung einfacher, Hilfe zu holen und ‹ambulant vor stationär› auch zu leben?
«Es sollen neue Wohnformen für die grösser werdende Gruppe älterer Menschen entstehen»
Wo besteht noch am meisten Handlungsbedarf?
Klar im intermediären Bereich. Zum Beispiel wollen wir die vielen betreuenden Angehörigen punktuell entlasten. Es sollen neue Wohnformen für die grösser werdende Gruppe älterer Menschen entstehen. Zusätzlich braucht es ein Umdenken und eine Auseinandersetzung mit dem letzten Lebensviertel: man lebt anders als früher, scheint heute fit zu sein und kann es progressiv angehen. Da ist Verunsicherung und ein Umdenken im Gang für einen Lebensabschnitt, in dem man noch keine Vorbilder hat. Am Jubiläumsanlass der Fachstelle für Altersarbeit hat Gastreferent Ludwig Hasler gesagt: Pflegt eure Umgebung und sucht euch eine sinnvolle Aufgabe für diesen Lebensabschnitt. Die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens ist ein wichtiger Faktor für unsere eigene Zufriedenheit.