Sascha Rittel und sein Team sind tief betroffen
Im Interview mit dem Dorfblitz spricht Landheim-Gesamtleiter Sasche Rittel über den Angriff im Landheim. Er betont: «Niemand muss Angst haben vor den Landheim-Bewohnern.»
Sascha Rittel: Am 12. Februar ereignete sich im Landheim ein schwerer Angriff durch einen Jugendlichen auf zwei Ihrer Mitarbeiterinnen. Wie geht es den beiden?
Den beiden Frauen geht es den Umständen entsprechend langsam etwas besser. Sie sind noch dabei, den Vorfall zu verarbeiten. Dennoch staune ich in Gesprächen über ihre Stärke und ihre Empathie. Beide fragen regelmässig danach, wie es den anderen Mitarbeitenden und Jugendlichen geht – selbst nach dem Jugendlichen, der die Tat verübt hat, fragen sie nach. Jedoch sind die polizeilichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen und daher kann ich mich nicht weiter dazu äussern.
Das Landheim feiert dieses Jahr sein 150-jähriges Bestehen: gab es etwas Vergleichbares in all den Jahren?
Definitiv nicht! Es war der massivste Vorfall in unserer Geschichte und auch in der Heimlandschaft generell der schwerste seit rund zehn Jahren. Ich habe in einem Brief an die Eltern unserer Jugendlichen und an die Behörden, mit denen wir zusammenarbeiten, geschrieben, dass dies ein isoliertes aussergewöhnliches Ereignis war. Es gab und gibt im Landheim keine chronifizierte Gewalt und hätte demnach überall passieren können.
Was geschah unmittelbar nach der Tat – hatten Sie für einen solchen Fall eine Vorgehensweise?
Sofort nach dem Vorfall kam unser internes Notfallkonzept zur Anwendung. Alle Mitarbeitenden verhielten sich sehr bedacht, haben die anderen Jugendlichen isoliert und sie so weit betreut, bis sichergestellt war, dass keine Gefährdung mehr für irgendjemanden bestand. Insgesamt würde ich sagen, dass wir alle trotz der ausserordentlichen Situation gut reagiert haben, hin bis zur Erstversorgung der Verletzten. Natürlich waren und sind alle tief betroffen – nicht alle waren jedoch direkt involviert oder haben etwas gesehen. Wir hatten Kontakt zum Care-Team der Kantonspolizei und sie waren am Folgetag bei uns im Landheim, haben mit allen betroffenen Personen gesprochen und Unterstützung angeboten. Die Strukturen im Wohnalltag haben bereits wieder gegriffen und die Jugendlichen sind in ihre Lehrbetriebe gegangen.
Mittlerweile ist eine Woche vergangen – wie weit sind Sie alle in der Verarbeitung?
Wir sind natürlich immer noch alle sehr betroffen. Es wurde für alle ein freiwilliges Gesprächsangebot mit Psychiatern aus unserem Netzwerk aktiviert. Wer will, kann jederzeit davon Gebrauch machen. Das gilt für Mitarbeitende als auch unsere jugendlichen Bewohner.
Ist ein kleiner Teil Alltag zurückgekehrt?
Nein, Alltag würde ich es noch nicht nennen. Was das Team aktuell immer noch leistet, ist ausserordentlich. Verglichen mit einer regulären Schule, bei der die Jugendlichen nach Hause gehen am Abend, spielt sich hier alles auf unserem Areal ab. Wir sind gezwungen, rasch wieder zu funktionieren und den Alltag sicherzustellen, da wir die uns anvertrauten Jugendlichen einfach in ein anderes Heim oder nach Hause geben können.
«Was das Team aktuell immer noch leistet, ist ausserordentlich.»
Machen Sie oder die Mitarbeitenden sich Gedanken darüber, ob man die Tat hätte verhindern können? Ob man etwas übersehen hat?
Es ist richtig und wichtig, dass wir den gesamten pädagogischen Verlauf genau aufarbeiten. Dies wird in zwei Etappen geschehen. Einerseits eine Fall-Supervision mit Fokus auf den Jugendlichen, andererseits gibt es aktuell engmaschige Team-Supervisionen für die Mitarbeitenden. Wir werden uns ausgiebig hinterfragen müssen. Haben wir etwas nicht bemerkt im Verhalten, was auf einen solchen Vorfall hingedeutet hat? Hier geht es in erster Linie darum, zu verstehen, wie es zu diesem Ausbruch kommen konnte. Stand heute sind noch viele Fragen unbeantwortet. Wir sind ein offenes Jugendheim und haben daher im Vergleich zu geschlossenen Institutionen weniger Sicherheitsvorschriften. Dennoch weise ich nochmals darauf hin, dass wir in alle den Jahren noch nie einen ähnlich gelagerten Fall hatten!
Wie erfolgt die Zuweisung von Jugendlichen?
Wir verfügen über ein ausgeklügeltes Aufnahmeverfahren, die Indikation wird vorab auf vielen Ebenen geprüft. Wir nehmen daher auch nur Jugendliche auf, wenn die Indikation für unser pädagogisches Behandlungskonzept passt. Ausschlussgründe sind beispielsweise eine alltagsbestimmende Suchtproblematik, schwere akute Persönlichkeitsstörungen und eine nicht durch ambulante Therapie behandelbare psychische Erkrankung. Die Aufnahme erfolgt durch zivilrechtliche Platzierungen (meistens via KESB) oder Jugendanwaltschaften. Minderjährige unbegleitete Asylbewerber fallen ebenfalls in diese beiden Kategorien und werden von uns gleich behandelt wie alle anderen. Wir betreuen Jugendlichen, deren Ausgangslage gute Integrationschancen bieten.
Hatten Sie Reaktionen von ausserhalb und der näheren Umgebung?
Wir haben ein paar wenige Emails aus der anwohnenden Nachbarschaft bekommen mit guten Wünschen und Genesungsgrüssen. Natürlich sind einige von ihnen auch besorgt. Ich kann diese Sorgen gut nachvollziehen, aber eben: die Situation war aussergewöhnlich und einmalig. Hundertprozentige Sicherheit wird es jedoch wohl niemals geben, weder im Landheim noch sonst wo.
Wir hatten bis anhin sehr wenige Beanstandungen und pflegen ein gutes Einvernehmen mit unseren Nachbarn. Unser Fussballplatz beispielsweise ist für ganz Baltenswil offen – man kann also jederzeit hier Fussball spielen. Jogger oder Spaziergänger durchqueren unser Gelände – es ist keine Gefahrenzone, die man meiden muss. Es wohnen hier 24 Jugendliche im Alter von 15 bis 20 Jahren auf dem Areal, da geht es natürlich auch einmal lauter und lebendiger zu, aber das kennt man auch von anderen Jugendlichen-Treffpunkten. Unsere Jugendlichen sind nicht eingesperrt, sie gehen in den Ausgang, sind in Sportclubs aktiv und besuchen im Rahmen ihrer Lehre auch die reguläre öffentliche Gewerbeschule. Es ist uns wichtig, dass sie auch ausserhalb des Landheims Fuss fassen und so später (wieder) Teil der Gesellschaft sein können. Den meisten gelingt das sehr gut.
Was sind Erfolge, über welche Sie sich freuen?
Für uns sind es verschiedene Dinge. Die erfolgreichen Lehrabschlüsse sind immer ein grosser und freudiger Höhepunkt im Jahresablauf. Aber im Kleinen auch ein gelungenes Fussballmatch im Kollektiv oder wenn ein Jugendlicher lernt, seine Zimmerordnung einzuhalten – dies sind Erfolge, die zählen. Die pädagogische Arbeit bei uns ist kein Sprint, sondern vielmehr ein Marathonlauf, den wir gemeinsam mit den Jugendlichen bewältigen. Wir freuen uns über viele kleine Etappen in der Entwicklung – es gibt aber durchaus auch kleine Rückschritte. Dennoch gelingt vielen ein Lehrabschluss mit unserer Hilfe. Bis es so weit ist, braucht es viel Verständnis und Ausdauer von den Mitarbeitenden, damit die Jugendlichen diesen persönlichen Marathon erfolgreich abschliessen konnen.
Gibt es Lehren, die Sie ziehen können oder Gedanken, die Ihnen durch den Kopf ziehen?
Dieser Angriff ist kein typischer Vorfall für das Landheim – er hätte vermutlich überall passieren können. Aber er hat uns als Institution in Mark und Bein getroffen. Wenn ich sehe, wie viel zusätzliches Engagement die Mitarbeitenden zurzeit leisten, ist es nicht in Ordnung, dass ihre Arbeit nun durch diesen einmaligen Vorfall derart getrübt wird. Einerseits wollen wir im Sommer unser Jubiläum feiern und gerne würde ich dem Team für den aussergewöhnlichen Einsatz zum Beispiel mit einem Pizzaessen danken – aber daran ist momentan nicht zu denken. Der Schock sitzt noch zu tief und es wird sicherlich noch lange dauern, bis wieder etwas Normalität einkehren kann.