Eine Stimme wiegt 1,2 Gramm
Ist das Stimmcouvert eingeworfen, ist für die meisten das Abstimmen erledigt. Für die Wahlbüromitglieder in Nürensdorf beginnt der Prozess erst mit dem Öffnen der Stimmcouverts. Ein Tag im Wahlbüro Nürensdorf.
«Heute haben wir vermutlich 20 000 Stimmzettel auf dem Tisch», verkündet Gemeindeschreiber Andreas Ledermann. Die weissen und blauen Wahlzettel aus der Urne ergiessen sich über den Tisch. Bis zehn Uhr hatten die 5800 Einwohner die letzte Möglichkeit, ihren Stimmzettel einzuwerfen. In Nürensdorf werden an diesem Sonntag, wie in vielen anderen Gemeinden in der Schweiz, Wahlzettel ausgezählt.
Ein Wahlbüromitarbeiter lässt geduldig die geschlossenen Briefe aus der Post durch die Brieföffnermaschine. Das Surren schwirrt durch den Raum mit der holzvertäfelten Dachschräge. «Heute gibt es viel zu tun», sagt Ledermann. «Hauptsache, ich bin um fünf Uhr zuhause», erwidert ein junger Mann aus dem Wahlbüroteam. Es ist 10.15 Uhr. «Fünf Uhr morgens schaffen wir», scherzt Ledermann zurück. Er hat ein schiefes Grinsen im Gesicht, wenn er solche Witze macht. Seine Augen sind wach und lachen mit. Im Wahlbüro herrscht eine lockere Stimmung.
Allen auf die Finger schauen
Ledermann geht im Raum herum und schaut allen auf die Finger. Er und Christoph Bösel, Wahlbürovorsitzender und Gemeindepräsident, sind die Kontrollinstanz, damit alles reibungslos abläuft und keine Fehler passieren. Zuerst werden die Stimmrechtsausweise kontrolliert. Ohne Unterschrift ist jede Stimme ungültig.
Heute liegen sechs verschiedene Vorlagen auf dem Tisch; vier kantonale und zwei nationale. «Wir haben eine Beteiligung von 67,5 Prozent», teilt Ledermann mit. Das sind viele Meinungen, die in Form von hellblauen und weissen Zetteln auf dem Tisch liegen. Mit verschiedenen Stiften wurden die «Ja» und «Nein» auf die Zettel gekritzelt. Ein «Ja» ist beispielsweise mit Grossbuchstaben und Edding geschrieben, ein «Nein» mit Tinte und zittriger Schrift. Das Sortieren braucht Zeit. Sind die Zettel bereits auseinandergerissen, geht es noch länger. Am besten sind ganze Bögen, die man aufeinanderlegen und alle zusammen trennen kann. Reisst bei einem Stimmzettel eine Ecke ab, wird sie von Bösel sorgfältig wieder angeklebt, ansonsten könnten die Ergebnisse auf der Waage verfälscht werden, erklärt er.
«Ich mache gerne administrative Arbeiten und jetzt, wo ich pensioniert bin, habe ich ja Zeit.»
Feuchte Zeigefinger
Die Lockerheit ist einer konzentrierten Stille gewichen, während flinke Hände die Zettel stapeln und sortieren. Damit schneller gezählt werden kann stehen kleine grüne Schwämmchen überall auf den Tischen verteilt, mit denen man den Zeigefinger anfeuchten kann, damit das dünne Papier besser haften bleibt beim Durchschauen der Osterhase Zettel.
Wie sich das Wahlbüroteam zusammensetzt, ist in jeder Gemeinde verschieden – ein Merkmal des Föderalismus. In Nürensdorf kann man sich freiwillig melden und wählen lassen, sofern man 18 Jahre alt ist und in Nürensdorf wohnt. Bernadette Brunold ist seit 2002 Stimmzählerin. «Ich mache gerne administrative Arbeiten und jetzt, wo ich pensioniert bin, habe ich ja Zeit», erklärt sie.
Die Gemeinde Nürensdorf ist von einer Vorlage besonders betroffen: die Pistenverlängerung am Flughafen Kloten. Nürensdorf liegt direkt in der Anflugzone. «Es würde mich überraschen, wenn diese Vorlage in Nürensdorf angenommen wird», sagt Ledermann. Im Wahlbüro wird gefachsimpelt über die möglichen Ergebnisse. Beim Zählen zeichnen sich Tendenzen in die eine oder andere Richtung ab. Eine klare Mehrheit lehnt schliesslich, wie erwartet, die Vorlage ab. Wie die anderen Gemeinden im Kanton entscheiden, ist zu diesem Zeitpunkt noch offen.
Das Sortieren ist monoton und doch befriedigend, da der Stapel auf dem Tisch immer kleiner wird. Selten ist die Demokratie so spürbar wie beim Zählen von Stimmen. Sind die Wahlzettel sortiert, nehmen Bösel und Ledermann den Stapel und lassen eine Banknotenmaschine genau 100 Stimmzettel abzählen. Dann werden die 100 Zettel auf eine Waage gelegt. Diese 100 Zettel sind der Referenzwert, mit dem die restlichen Stimmzettel gewogen werden. Jede Stimme fällt ins Gewicht.
Im Kanton Zürich wird die Pistenverlängerung schliesslich angenommen. Die 1762,8 Gramm «Nein»-Stimmen in Nürensdorf waren zu leicht, um genügend Gegengewicht zu geben.